Genuss im Nationalpark 2545m ü. M.

Unsere heutige Etappe vom Ofenpass durch den Nationalpark zur Cluozza-Hütte ist lang – aber höchst kurzweilig. Sie beginnt mit panoramareichem Höhensurfen, wird dann zur wohlriechenden Waldwanderung, überwindet in einem Kraftakt die Fuorcla Murter und endet beim Blockhaus im wildromantischen Val Cluozza. Die Tour könnte auch in zwei Teilen erwandert werden.

Nach einem reichhaltigen Frühstück im Hotel Nationalpark steigen wir in das Postauto und wenige Minuten später bei der Haltestelle Buffalora wieder aus. Auf dieser Ebene knüpfen wir an unsere gestrige Tour an und steigen wenig anstrengend zur Grenze des Nationalparks am Fuss des Munt Chavagl hoch. Die Murmeltiere erwarten uns mit lauten Pfiffen, derweilen wir gemütlich der 2350er-Höhenkurve entlang surfen.

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Die Buffalora-Ebene – es kann losgehen
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Innovativer Futternapf für Wanderer
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Kurz vor dem Eintritt in den Nationalpark, vorne der Munt Chavagl

Unser Blickfeld richtet sich südlich nach Italien, bald bewundern wir den schmalen, dunkelblauen Livigno Stausee, dahinter glänzen vergletscherte Riesen wie der Südtiroler Punta di Matteo und die Bernina-Gruppe. Grossartig! Wir wissen kaum, wie wir das alles mit unseren Kameras festhalten sollen. Da wirkt es schon etwas komisch, als plötzlich ein junger Parkwächter auftaucht, der einen Materialsack suche, der vom Helikopter falsch abgesetzt worden sei.

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Lago di Livigno, weit dahinter die Bernina Gruppe

Der Pfad führt nun hinunter und verschwindet nach der Alp la Schera in den Urwald. Jetzt erleben wir Nationalpark pur. Die totale Unberührheit, überall umgefallene Bäume, nur vom Pfad sind sie säuberlich weggesägt worden. Ich bin ja kein besonderer Freund von Spaziergängen im Wald, aber das hier übertrifft alle Erwartungen. Es duftet intensiv, der Boden ist weich, knorrige Äste zieren den breiten Pfad, herrlich! So erreichen wir relaxt den Punt Paliv (Paliv-Brücke), die uns über den Spöl-Bach führt, der das Val Mora-Wasser zurück in die Schweiz bringt. Jetzt beginnt der zweite Teil der Tour – eine ganz andere.

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Waldfreuden
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Der Punt Periv – der tiefste Punkt des Tages

Nach der Brücke wird der Pfad nämlich schmal und ist vielerorts wurzeldurchsetzt. Im stetigen Auf und Ab folgen wir dem Flusslauf talabwärts. Immer wieder wird der Blick frei auf das Wasser, das sich eigenwillig einen Weg durch die Felsen gegraben hat. Hin und wieder werden Seitenbäche überschritten, gute Durstlöscher. Es ist wildromantisch, das einzig Störende sind die Geräusche der Ofenpassstrasse auf der anderen Talseite, die wir leider immer wieder hören.

Nach einer guten Stunde erreichen wir Plan Praspöl. Von hier aus könnte man zur Ofenpassstrasse hochsteigen und den Bus nehmen, aber für uns beginnt jetzt der Aufstieg zur Fuorcla Murter. Nach gut 5 Stunden gemütlichem Wandern lautet die Aufgabe: 850Hm Steigung in einem Stück. Unsere Muskeln sind warm, wir gehen es gemütlich an, die Stöcke leisten gute Dienste. Tic-tac, tic-tac, tic-tac, eigentlich geht das ganz gut, solange der Rhythmus stimmt. Trotzdem ist etwas Ausdauer gefragt. Eine knappe Stunde später erreichen wir den Aussichtspunkt Plan del Poms, wo wir kurz etwas trinken und selbstbewusst den Blick zurückwerfen auf das bisher bewältigte Tageswerk. Das Panarama ist umwerfend.

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Die Fuorcla Murter mit ihrem abgestecktem Rastplatz (gelbe Pfosten). Dahinter diese grossartige Ofenpass-Landschaft, ganz hinten der Ortler

Auf den letzten 250Hm über karge Bergwiesen werden wir begleitet von Murmeltieren, die hier in grossen Mengen siedeln und nur wenig scheu sind. Am Piz Terza erkennen wir eine grosse Gämsherde, dann stehen wir schon auf der Fuorcla Murter. Es ist ziemlich frisch, wir rasten nicht lange. Arno und Chris steigen gleich ins Val Cluozza ab, ich will dem Piz Terza noch einen kurzen Besuch abstatten. Für kurze Zeit trennen sich unsere Wege.

Ich lasse den schweren Rucksack zurück und fliege entlastet hoch. Kurz vor dem Gipfelgrat begegne ich der Gämsherde wieder, die fluchtartig entschwindet. Ich will spotten, aber dann fallen mir mit Schrecken die Regeln des Nationalparkes ein: „Die Wege nicht verlassen“. Ich halte inne, peinlich von meiner egoistischen Ungestümheit berührt. Ich setze mich auf einen Stein für einen Reset. Ein Murmeltier mustert mich, verwundert meine ich, zum Glück nicht vorwurfsvoll. Ich atme tief durch und blicke in die Weite – zum Ofenpass und zu den fernen Gipfeln des Val Müstair. Die Wolken werfen ihre Schatten spielerisch auf die Berge, die Grashalme wogen im Wind. Aus dem Nichts überwältigen mich die Gefühle. Tränen kullern meine Wangen hinunter, ein Brocken im Hals löst sich über ein kurzes Schluchzen. Was für ein unverschämtes Privileg, dass ich hier sein darf! Was für ein Glück! Dann schmunzle ich wieder, bitte herzhaft um Entschuldigung beim Piz Terza, bei den Gämsen und dem Murmeltier für mein Eindringen und laufe zügig zum Pass zurück.

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Er lässt sich nicht von mir stören
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Die Fuorcla Murter. Rechts (oben ziemlich weiss) das Val di Sassa, Ziel der morgigen Tour

Ich jogge zügig die 600Hm über den schmalen Pfad ins Val Cluozza hinunter, wo 1912 die Geschichte des Nationalparks begann. Chris und Arno sitzen schon beim Bier unter den Lärchen vor der schönen Blockhütte, die Chamanna Cluozza. Kein Handy-Empfang, keine Emails. Der Abend wird gemütlich. Zusammen mit Priska und ihren Töchtern aus Bern essen wir Risotto mit Fleischvögeln, auch der einfache Rotwein schmeckt gut. Irgendwann bekommen wir sogar mit, dass die Schweizer Fussballer unentschieden gegen Costa Rica gespielt haben und Deutschland ausgeschieden ist. Total egal. Tief zufrieden schlüpfen wir um 22.00 Uhr in unsere Schlafsäcke.

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Chamanna Cluozza

Tourdatum: 28. Juni 2018

Kartenausschnitt Buffalora-Cluozza (pdf)

Interaktiver Kartenabschnitt mit Höhen- und Zeitangaben

2 Kommentare

  1. Pingback: Edwin wandert

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