Der verpasste Pigne de la Lé

Es ist verflixt – der Berg kann gleichermassen dein Freund wie dein Feind sein. Das Zünglein an der Waage ist fast immer das Wetter. Heute verwehrt es mir die Erklimmung des Pigne de la Lé, schenkt mir aber dennoch einen wunderbaren Tag im Bann des Glacier de Moiry und im rauen Habitat einer Steinbockherde.

Als ich um sieben Uhr von der Crew der Cabane de Petit Mountet verabschiedet werde, färben die ersten Sonnenstrahlen den Gipfel der Pointe de Zinal golden. Das erste Foto des Tages! Es ist noch frisch, der Herbst klopft an. Dafür steigt es sich leichter auf dem schmalen Pfad, und bald läuft sich das «Motörli» warm. Ein paar pummelige Murmeltiere hoppeln davon, der Älteste pfeift mich empört an.

Pointe de Zinal 

Nach einer kurzen Querung warten nun die 1000 Höhenmeter hinauf zum Col du Pigne – im Gelände zunehmend steil und rau. Der blau-weiss markierte Weg führt anfangs sanft über Alpwiesen, vorbei an einer Kuhherde, doch bald ist Schluss mit lustig. Unerbittlich rückt die steile Flanke näher, die in einem Zug zu bewältigen ist. «Schön den Puls unter Kontrolle halten», mahne ich mich selbst.

Der Pigne de la Lé und rechts davon der Pass
Morgenstimmung mit Weisshorn und Besso auf der anderen Talseite

Doch der Pfad zeigt sich vorerst gutmütiger als gedacht und windet sich wie ein dünner Faden durch das Geröll. Und plötzlich – eine ganze Herde Steinböcke! Sie grasen friedlich, suchen die spärlichen Gräslein in diesem kargen Lebensraum. Sie lassen sich nicht stören. Eine willkommene Ausrede, länger stehen zu bleiben und zu beobachten: das stolze Männchen, das mich kritisch mustert, die Weibchen, die ihre Jungen beschützen. Dieses Dabeisein dürfen ist jedes Mal aufs Neue ein berührendes Erlebnis.

Genügsam leben ….

Dann wieder steigen – die Höhenmeter fordern. Die Flanken werden giftig steil, am oberen Ende warten Felsen. Dank Ketten sind die ausgesetzen Stellen gut gesichert, ein paar kräftige Klimmzüge – und schon stehe ich auf dem Pass.

Die letzten Meter vor dem Pass sind felsig

Was für ein Szenenwechsel! Der Krampf hat sich gelohnt. Vor mir breitet sich der mächtige Moiry-Gletscher aus – für mich einer der schönsten der Schweiz. Er reicht zwar nicht mehr bis zum Pass wie vor zwanzig Jahren, doch wer das nicht weiss, ist trotzdem beeindruckt. Was ich allerdings auch sehe: eine dunkle Wolkenfront. Der Radar bestätigt: «Du wirst bald nass.»

Passblick zum Moirygletscher
Es wäre nicht weit vom Pass zum Pigne de la Lé… (45‘)

Damit ist die Genusskraxlerei (max. II) über den Nordgrat des Pigne de la Lé gestrichen. Keine Kletterei im Nassen, und schon gar nicht allein. Ich seufze, schüttle den Kopf und sage nein. Stattdessen setze ich mich zu zwei jungen Amerikanern, «beklage mein Schicksal» – und schmunzle dann. Also direkter Abstieg durch die Blöcke Richtung Moiryhütte. Schon die ersten Regentropfen machen dies deutlich anspruchsvoller.

Mit grosser Vorsicht peile ich die Hütte an, halte aber immer wieder inne, um den Gletscher zu fotografieren – zu schön ist er. Nach einem konzentrierten Abstieg von rund 40 Minuten bereue ich meine Entscheidung nicht mehr. In der Hütte setze ich mich in die Panoramaecke, geniesse eine heisse Schoggi und einen Nussgipfel. Bald reissen die Wolken wieder auf. Derweil studiere ich die alten Fotos an der Wand – Zeugen eines einst noch viel grösseren Gletschers.

A room with a view … und im Bild wie‘s „gestern“ war…

Nach einer knappen Stunde ist es trocken, und ich breche relaxt wieder auf. Der Hüttenweg ist schön angelegt und trocknet rasch. Das erlaubt viele Genussstopps – und noch mehr Fotos. Neben einer Gruppe stoisch ruhender Kühe setze ich mich nochmals hin und lasse meine Kleider trocknen. Bald stehe ich am Parkplatz beim Gletschersee. Ich werde zurückkommen und von hier aus diesen Pigne schon noch erklimmen. Ein letzter, wehmütiger Blick zurück zu meinem Eisliebling, dann geht’s gemächlich entlang des Moiry-Stausees zur Staumauer, wo Beizli und Poschti warten.

Im Abstieg auf dem Hüttenweg. Links oben schwebt ein Heli über der Miory-Hütte
Der Sehnsuchtsblick zurück
Moiry Stausee

Kaum bin ich unten, zieht die nächste Front durch. Zwei Tage Regen. Glück und Unglück – nach zwei herrlichen Tagen im Val d’Anniviers.

Tourdatum: 4. September 2025

Interaktiver Kartenausschnitt mit Höhenprofil und Zeitangaben

Kartenausschnitt Col du Pigne (pdf)

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