Der Tiger am Wildgärst 2891 m ü. M.

Auf der Axalp oberhalb des Brienzersees sagen sich Fuchs und Hase noch Gutenacht. Nur einmal im Jahr erwacht das verschlafene Bergnest – wenn in der zweiten Oktoberwoche jeweils bis zu 6’000 Flugfans die 600 Höhenmeter unter die Füsse nehmen, um vom Tschingel oder Axalphorn das traditionelle Fliegerschiessen der Schweizer Flugwaffe aus nächster Nähe mitzuerleben.


Auch ich war schon mehrmals dort. Diesmal kombiniere ich das Spektakel mit einer richtigen Bergtour. Ich will mir nämlich das Ganze einmal vom Wildgärst, dem höchsten der umliegenden Gipfel, anschauen (wer sich das Youtube Video ansieht, erkennt ihn gut an seiner mächtigen Nordwand). Um dem Chaos der Menschenmassen auf der Axalp auszuweichen, wähle ich einen der Trainingstage vor dem Event. Das erweist sich als glückhafter Entscheid. Der immer höher steigende Hochnebel wird zur Absage der Vorführungen an den Folgetagen führen.

Ich befinde mich im dicksten Nebel, als ich um halb Neun an der Talstation des Sessellifts losmarschiere. Schon nach wenigen Minuten donnern die ersten Maschinen über meinen Kopf, ihre Kanonensalven erschüttern die Luft. Das wirkt schon etwas beklemmend in der Wolke. Mein Weg führt zuerst zur Chüemad und folgt dann der Höhenkurve. Dann tauche ich ins Tschingelfeld ein, das „sichere“ Hochtal hinter dem Schiessgebiet im Lütschentälli. Bei Oberberg zweigt meine Route vom Pfad zum Faulhorn ab, ich steige steil über Grasflanken und Wegspuren die Schafböden hoch. Wenig später durchbreche ich die Wolkendecke – wie herrlich ist doch dieser Wechsel vom feuchtkalten Nebel an die wärmende Oktobersonne!

Auf den Schafböden im Aufstieg über dem Tschingelfeld
Endlich an der Sonne: Auf den Schafböden im Aufstieg über dem Tschingelfeld

Nach dem anstrengenden Anstieg verändert sich das Gelände komplett. Über plattige Steinfelder wandernd treffe ich hier auf einen gut markierten Weg. Dieser führt vom eisigen Häxeseeli zur Wart und dem arg verkümmerten Blaugletscher, der den breiten Pass zwischen Wildgärst und Schwarzhorn schmückt. Hier treffe ich auch auf die ersten Menschen, sogenannte Spotter, die mit ihren riesigen Kamera- und Objektivtaschen von der Grossen Scheidegg (1961m) kommend den etwas einfacheren Weg zum Wildgärst gewählt haben.

Ab 2500 m ü M. wartet eine steinige Landschaft
Ab 2500 m ü M. wartet eine steinige Landschaft
Der Blick von der Wart in das Susten/Grimselgebiet
Der Blick in das Susten/Grimselgebiet, vorne die Reste des Blaugletschers

Steil geht es weiter über den schuttigen, breiten Gratrücken zum Wildgärst. Hier erwartet mich der erhoffte, grandiose Rundblick. Das breite Gipfelplateau erschwert die Wahl des besten Plätzchens für die Gipfelpause – ein Luxusproblem. Ich beisse in mein Thon-Sandwich, fasziniert gleiten meine Blicke über die Wolkendecke. Ich probiere die Gipfelchen zu erkennen, die aus dem Nebel herausragen. Hinter mir präsentieren sich, frisch verschneit, die Berner Oberländer Popstars Eiger, Mönch und Jungfrau.

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Gipfelblicke über den Nebel in Richtung Bern

Wie gesagt, ich bin nicht alleine hier oben. Rund 20 Spotter aus aller Welt warten mit ihren eindrücklichen Ausrüstungen auf die nächste Staffel Kampfjets. Die drei Schiessziele tief unter uns sind gut sichtbar. Schon tauchen sechs Tiger F5-Kampfjets am Horizont auf. Wie Wespen umfliegen sie minutenlang das Zielgebiet und durchlöchern ihre Ziele. Besonders spektakulär ist die Angriffsphase, in der die Jets direkt auf die Wildgärst-Wand zufliegen, schiessen, hochziehen, sich um die Achse drehen und knapp über unseren Köpfen wieder in den Sinkflug übergehen. Ich werde dabei das Gefühl nicht los, dass der erste Tiger die Höhe etwas falsch eingeschätzt hat, so knapp rast er mir über den Kopf (siehe Video unten). Ich bin tief beeindruckt und aufgewühlt.

Dann ist Armee-Mittagspause und ich steige über denselben Weg wieder ab. Die Ruhe kommt zurück, und ich nehme mir viel Zeit, um die skurillen Felsformationen in diesem wilden, unendlich einsamen Hochtal zu studieren. Es überkommt mir ein Gefühl von Wehmut – unten droht der graue Hochnebel, und auch die Wandersaison neigt sich dem Ende zu. Es wird das letzte Mal an der 3000er Grenze gewesen sein in diesem Jahr. Die umliegenden Gegend wird unter Schnee und Eiseskälte versinken, die vor mir wegflüchtenden Gämsen werden versuchen, etwas weiter unten im Tschingelfeld zu überleben.

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Der Nachbar des Wildgärst, das Gärstehoren

Im Lütschtälli angekommen kann ich nicht anders, als nochmals die 400 Höhenmeter Steigung zum Tschingel unter die Füsse zu nehmen. Nochmals Sonne, nochmals Jets, diesmal aus der „Normalperspektive“ – wunderbar. Spätnachmittags fahre ich zufrieden und dankbar in Richtung Brünig nach Hause. Auf dem Flugplatz Meiringen landet derweilen die letzte F/A 18 des Tages.

Interaktiver Kartenausschnitt mit Höhenprofil und Zeitangaben

Kartenausschnitt Wildgärst, Tschingel (pdf)

Tourdatum: 8. Oktober 2013

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