Narzissenmeer am Chasseral 1607m ü. M.

Der Jura hat bei mir in der Regel einen schweren Stand gegen die Alpen. Aber weil der Schnee noch so weit hinunterreicht – gestern auf der Rigi gab es ab 1500m nasse Füsse – soll heute ein neuer Versuch gewagt werden. Was für ein Glücksfall! Die lange Tour, die oberhalb von Biel beginnt und über den Chasseral nach St. Imier führen wird, bietet grosses Kino. Millionen von Narzissen und Krokusse, eine Prachtsicht auf Alpenkette und Mittelland und eine spektakuläre Schlucht zum Dessert.

Das Regionalzüglein von Biel nach La-Chaux-de-Fonds hält in Frinvillier, ein unscheinbares Nest in der engen Klus. Hier beginnt die 7. Etappe des Jura-Höhenwanderwegs (Chemin des Crètes), die über einen langen Gebirgszug zum höchsten Punkt des Berner Juras führt. Die Höhe muss ich mir aber zuerst verdienen. Zwischen zwei Felsen hindurch zweigt der Pfad von der Strasse ab und führt sofort steil nach oben. Der schön angelegte Weg folgt im gleichmässigen Zickzack einer felsigen Gratkante, die immer wieder schöne Tiefblicke in die Klus erlaubt.

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Ein schöner Gratweg

Der Wald riecht nach Frühling, Vögel zwitschern um die Wette. Nach einer knappen Stunde und rund 500Hm Steigung flacht der Berg erstmals etwas ab, der Wald weicht bewirtschafteten Alpweiden. Die Route führt nun eine Weile der flacheren, nach Frankreich gerichteten Seite der Kette entlang. Der durch Millionen Jahren Erosion abgerundete Berg bietet viel Platz für Weiden und abgelegene Bauernhöfe. Bei La Ragie reitet ein kleines Bauernmädchen ihr Pferd aus, der Vater werkelt an seinen Maschinen herum – ein friedliches Bild. Aus weiter Ferne dröhnen dumpf die Maschinen eines Kieswerks, das Jura-Gestein muss für vieles herhalten.

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Stilleben im Jura

Der Pfad führt nun zurück zur Krete und damit zur Südseite – bei Pré Carrel auf knapp über 1300m breitet sich plötzlich gefühlte 70 Prozent der Schweiz vor mir aus. Vom Säntis bis zum Mont Blanc die Alpen, darunter das ganze Mittelland. Und damit nicht genug – die Weiden platzen vor Narzissen, zu Millionen werden sie mich in der nächsten Stunde begleiten. Knorrige Bäume säumen den Weg und zeugen vom heftigen Wind, der hier oft bläst. Wenig später erspähe ich erstmals den mächtigen Turm auf dem Chasseral, der allerdings noch weit entfernt ist. Beim leider noch geschlossenen Jurahaus der SAC pausiere ich – und rationiere meine zu knapp bemessenen Wasserreserven. Bäche gibt es auf Gratwanderungen nicht.

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Kann ein Bänklein schöner liegen inmitten von Blumen mit Sicht auf die Berner Majestäten?
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Narzissen wohin das Auge reicht

Die nächsten zwei Stunden sind wahres Genusslaufen; wenig Anstrengung, volle Aussicht. Ich komme zu einem Passsträsschen. Der Parkplatz ist voll, darum herum bereiten Familien ihr Picknick vor, die Kinder klettern in den Bäumen und spielen auf den beblumten Wiesen. Schon wenige Hundert Meter weiter herrscht wieder totale Ruhe. Noch fehlen rund 300 Höhenmeter zum Chasseral. Ich passiere die ersten Altschneereste, nun erfreuen unzählige Krokusse das Auge. Das letzte Teilstück ist komplett baumfrei, eindrücklich die Sicht auf die drei Seen und das Seeland.

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Cape Canaveral in Sicht
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Seeland und Seen – das geübte Auge sieht den Mont Blanc

Mit dem Turm, der aus der Nähe einer Raketenstartrampe gleicht, kommt die Zivilisation zurück. Eine Tafel warnt die Besucher, die nun in dichten Reihen auftauchen, vor herunterfallenden Eis- und Metallstücken (!). Über ein asphaltiertes Strässchen erreiche ich wenig später das etwas heruntergekommene Hotel de Chasseral (Parkplatz), wo ich meinen grossen Durst stillen kann. Von hier würde ein Bus nach St. Imier oder nach La Neuveville fahren, aber eben erst ab Übermorgen…

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Ohne Worte

So steige ich über die Nordseite ab und lasse den Trubel gleich wieder hinter mir. Der Weg nach St. Imier führt zunächst durch offenes, dann durch zunehmend bewaldetes Gelände zum Einstieg in die Combe Grède. Ein schön angelegter Pfad, an vielen Stellen mit Eisenketten gesichert, führt hinunter in die steile, wilde Schlucht. Die Schlüsselstellen in den Felsen werden mit Leitern und Passarellen überwunden. Erst viele Hundert Meter weiter unten flacht das Gelände ab. Im Hochsommer liesse es sich hier angenehm schattig-kühl auf den Chasseral steigen.

Dann werden die ersten Häuser von Villeret bei St. Imier sichtbar, von wo aus mich das Züglein nach dieser höchst abwechslungsreichen Tour wieder nach Biel zurückbringt. Jura – ich komme wieder.

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Typische Jurafelsen in der Combe Grède
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Hilfreiche Leitern
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…und Passarellen

Tourdatum: 6. Mai 2016

Kartenausschnitt Chasseral (pdf)

Interaktiver Kartenausschnitt

N.B. Im Hochsommer würde ich in St. Imier beginnen und beim Jurahaus (Pt. 1322) südlich absteigen nach Plans Dessous (1000m ü. M., Bus nach Biel). Die Tour verkürzt sich dadurch um ca. 2 Std.

4 Kommentare

  1. Sieht toll aus und herrliches Wetter! Spannend, mal in einer anderen Region zu wandern. Habe letzte Woche meine Hüfte operiert und bin ab Juli gerne wieder mal mal dabei eine Tour zu machen!

  2. Hallo Edwin,
    heute „Narzissen im Jura“ gesucht und bin auf deine Wanderung über den Chasseral gestossen. Danke für den ausführlichen und reich bebilderten Bericht. Der Jura ist für mich – noch- nicht so erwandert. Deine Bilder machen aber grösste Lust dazu. Herzlichen Dank.
    Ursa

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