Zu früh am Pizzo di Claro 2727m ü. M.

Wer von Bellinzona nach Norden schaut, kann ihn nicht übersehen. Majestätisch überragt der trapezförmige Pizzo di Claro die ganze Region. Der Grenzwächter zwischen Tessin und Graubünden erhebt sich fast 2500m über die Leventina und das Misox. Ich erreiche seinen Fuss über den langen Südgrat, um ihn dann über die anspruchsvolle Lumino-Route zu erklimmen. Rund 100m unterhalb des Gipfels werde ich von einem vereisten Schneefeld gebremst und zur Umkehr gezwungen. Ich tröste mich mit dem Piz de Molinera, und lerne dabei sympathische Tessiner kennen.

Das kalte Wetter und der Neuschnee dieser Woche brachten mich auf die Idee, es einmal im Tessin zu versuchen. Dank der NEAT ist Bellinzona ja keine 100 Minuten mehr von Zürich entfernt. Der Schnee ist im Süden schon fast weg, und mein Italienisch etwas aufzufrischen wäre ja auch nicht schlecht. So stosse ich beim Recherchieren auf den Pizzo di Claro, von dem Giuseppe Brenna im Clubführer der Tessiner Alpen schwärmt: „Es ist dies der majestätische Berg, den jeder Tessiner kennt und vielleicht auch mindestens einmal in seinem Leben zu besteigen wünscht“. Da will ich hin. Gemäss der Landeskarte verkürzen verschiedene Alpsträsschen den Zustieg. Für den öV-Wanderer bietet sich die „Funivia“ in Lumino an (www.funivia-pizzodiclaro.ch).

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Zoombild (deshalb leider etwas unscharf) vom Bahnhof Bellinzona. Links der Pizzo di Claro, rechts der Piz de Molinera. Gut sichtbar der Schnee in der Westflanke unterhalb des Gipfels

Das kleine Seilbahnhäuschen finde ich am oberen Dorfrand von Lumino. Machinist Marcello begrüsst mich herzlich, dann helfe ich der Bergbeiz-Köchin (Osteria di Saurù) Lebensmittel in die winzige Gondel zu laden. Irgendwie finden wir selber auch noch Platz. Das Bähnchen ist windempfindlich, immer wieder stehen wir still. So dauert die Fahrt anstatt 12 Minuten fast eine halbe Stunde. Dafür übe ich fleissig Italienisch.

Für den Espresso im Beizli bleibt keine Zeit mehr, ich laufe gleich los. Der rot-weiss markierte Pfad folgt dem Gratverlauf und steigt steil an. Es ist hier dicht bewaldet, nur selten erhasche ich einen Blick in die Tiefe oder auf die anderen Talseiten. Aber es ist eindrücklich, wild, grosse Steinbrocken säumen den Weg, Felsen zwingen zeitweise zum Ausweichen in die Flanken, Vögel zwitschern, die Baumnadeln riechen gut. Nach einer Stunde kommt der „grosse Moment“, als ich die plateauartige Alp Brogoldone erreiche. Was für eine Aussicht! Die Magadinoebene, die Städtchen und Dörfer, alles eingebettet in einem grossen Kranz leicht verschneiter Bergspitzen – spektakulär! Ich geniesse die überraschende Weite auf einer Bank der noch geschlossenen Capanna di Brogoldone. Es ist still, nur das Wasser im Brunnen plätschert. Eiszapfen zeugen von der Kälte der letzten Tage.

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Der wilde Wald
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Seitenblick in die Leventina: Am 15. Mai 2012 bewegte sich hier der Berg (Felssturz von Preono)
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Eine schöne Aussichtskanzel, die Alp Brogoldone

Die Alp ist ein Knotenpunkt verschiedener Routen, ich folge den Markierungen in Richtung Piz di Molinera und Passo di Mem. Über steil ansteigende Wiesen gelange ich zu einer flacheren Anhöhe und damit zu den ersten Schneefeldern. Sie sind pickelhart gefroren. Ich ahne schon, was mich erwarten könnte als ich jetzt den Pizzo di Claro vor mir sehe. Er ist noch etwas weisser, als ich mir das erhofft hatte. Vorerst geht alles bestens. Ich erklimme den Grat und balanciere fortan vergnügt auf der Grenze zwischen Tessin und Graubünden. Und das mit einer gewaltigen Aussicht: im Osten bis zur Bernina-Gruppe, im Norden das Finsteraarhorn und das Gotthard-Massiv, im Westen die Walliser Prominenz, vor mir das markante Ziel als erster Gipfel der langen Adulakette.

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Der lange Grat zum Fuss des Pizzo di Claro

Auf dem Passo di Mem enden die Markierungen, aber es führen gut sichtbare Pfadspuren entlang des Grats. Zwischendurch ist etwas Hüpfen über Felsplatten angesagt, mal sind die Hände gefragt, schwierig ist es nirgends. Der Felsaufbau des Pizzo di Claro kommt näher. Ab 2400m, wo die Pfadspuren links vom Grat in Richtung Lago di Canee abzweigen, werden die Brocken grösser. Das Steigen wird anspruchsvoller (ab jetzt T5) . Nochmals 100Hm weiter oben entdecke ich die ersten weissen Punkte, die den Beginn („Attacco“) der Via Lumino markieren.

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Gratblick nach Osten…
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… und nach Westen

Ich versorge nun die Stöcke in den Rucksack, hänge Halbsteigeisen und Pickel an den Gürtel und mache mich an die Kletterei. Sie führt zunächst um eine mächtige Felsnase herum, die Schlüsselstelle der Tour. Der Schwierigkeitsgrat übersteigt zwar kaum eine I, die Route ist aber ziemlich ausgesetzt. Stellenweise hält das Gestein nicht gut, ein Kontrollgriff ist ratsam, bevor man sein Gewicht verlagert. Dann folgt 45 Grad steiles Schrofengelände, das einige wenige, simple Kraxelpassagen enthält. Bald erspähe ich die Gratwächte. Doch da stellt sich mir ein langes Schneefeld in den Weg, das steinhart gefroren ist. Ich schnalle die Eisen an, ohne Frontzacken muss ich mit dem Pickel Tritte schlagen. Hätte ich nur die richtigen Steigeisen mitgenommen! Ich zögere. „Da kommst du schon hoch“, denke ich: „aber nicht mehr runter“. Ein Ausrutschen würde auf dem Dorfplatz von Claro enden. Ich halte inne und höre eine Weile dem Teufelchen und dem Engelchen zu, die in meinem Kopf heftig über das Für und Wider eines Weitergehens debattieren. Das Engelchen gewinnt.

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Der Einstieg in die Via Lumino führt um diese Felsen herum (Bildmitte) in die westliche Gipfelflanke

Ich setze mich auf einen Stein und atme tief durch: „Dann ist es eben so“. Ich packe die Eisen wieder ein und steige vorsichtig zum „Attacco“ ab, wo ich mir eine ausgedehnte Pause könne. „Dafür noch den Piz de Molinera“, sage ich mir, und motiviere mich für die spannende Gratwanderung in umgekehrter Richtung. Dennoch drehe ich mich immer wieder um und betrachte den Unvollendeten. „Ich komme wieder, mein Freund!“, rufe ich ihm zu. Ich schaue mir indessen auch den einfacheren Aufstieg (T3) über die Ostflanke an, nehme mir aber vor, die Via Lumino bei nächster Gelegenheit zu vollenden. Der Abstieg erfolgt übrigens am besten über die Normalroute zum Lago di Canee auf der Nordseite, aber das kommt wohl erst ab Mitte Juni in Frage.

So finde ich meinen Frieden und wende mich wieder dem Grathüpfen und Genuss der schönen Aussicht zu. Im Schlussaufstieg zur lohnenswerten Aussichtskanzel liegt zwar noch viel gefrorener Schnee. Aber hier ist das Gelände nicht steil und mit den Halbsteigeisen problemlos begehbar.

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Ein Genussgrat
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Die winterliche Nordseite des Piz de Molinera
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Blick vom Gipfel auf die Alp Brogoldone und in die Magadinoebene

In bester Stimmung erreiche ich den Gipfel und treffe zu meiner Überraschung auf drei Ticinesi, die mich freundlichst begrüssen. Sie wundern sich, wie ein Deutschschweizer hierher finde. Ich radebreche in Italienisch, bald helfen Leo, Monica und Marisa mir aber aus der Patsche mit ihrem besseren Deutsch. Wir unterhalten uns bestens. Dann bieten sie mir an, mit ihnen abzusteigen. Ihr Auto stehe in Prepiartò (1400m). Da sage ich gerne zu, denn die Seilbahn fährt erst ab 17.00 Uhr wieder – wenn sie denn fährt.

So steigen wir zusammen in direkter Linie auf die Alp Brogoldone ab. Dabei lerne ich von Leo alles über die Wasserversorgung von Lumino und noch vieles mehr. Dann schwenken wir auf den schön angelegten Höhenweg zur Alp de Martum ein und gelangen schliesslich nach steilem Abstieg durch den staubtrockenen Wald zur Alp de Palazi. Wenig später sitzen wir in Leos Auto und kurven in endlosen Kehren ins Tal hinunter. Marisa bringt mich schliesslich zum Bahnhof nach Bellinzona. Grazie mille, carissimi Ticinesi!

Tourdatum: 21. April 2017

Kartenausschnitt Pizzo di Claro (pdf)

Interaktiver Kartenausschnitt

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Die Bündner Grenze im Wald – Zufluchtsort für das Wild? (Bandita di caccia = Schongehege)

6 Kommentare

  1. Molto bello!!! Da ora in poi possiamo parlare italiano 🙂 Dove vai il prossimo fine settimana?

  2. Bello il tuo blog e bello il resoconto dell’escursione.
    Auguri per tante altre belle gite in Ticino.
    Tanti saluti
    Marisa

    • Ciao Marisa,
      Spero che ci vediamo. In Ticino oppure sul Zollikerberg. Preferisco in Ticino!
      Edwin

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