Shortcut um den Wildstrubel

Die Königsetappe dieser Transversale-Woche: Wir wandern über vier Pässe von der Cabane des Audannes zu Norberts Hotel auf der Engstligenalp. Um ein paar Hundert Höhenmeter zu sparen, versuchen wir eine wenig begangene, wilde Abkürzung unterhalb der Nordwänden des Wildstrubels. Wir werden fündig – und haben das Glück, dass die Verhältnisse es zulassen.

Der Wandertag beginnt nach der Überschreitung des reizvollen Gletscherwasserdeltas unterhalb der Hütte (siehe Bilder von gestern) mit einem kurzen, scharfen Aufstieg zum Col des Eaux Froides. Es sind kaum 200Hm, aber genug, um die Maschine auf Betriebstemperatur zu bringen. Oben angekommen sehen wir das Tagesziel in der dunstigen Ferne – über den Rawilpass und Tierbergsattel zum Wildstrubel und weiter zu den Adelbodner Bergen.

Gletschergeschliffenes Karstfeld…
… mit reizvollem Blick auf den Lac de Tseuzier

Auf einen sanften Abstieg folgt eine längere, leicht ansteigende Traversierung durch zerklüftetes Karstgelände, dass einst vom Wildhorngletscher geschliffen wurde. Das ist anspruchsvoll und verlangt grosse Aufmerksamkeit. Beim kleinen Eissee Lac de Téné können wir kurz durchschnaufen, dann folgt schon der nächste Karstriegel auf dem Weg zum Plan des Roses. Dieses grosszügige Schwemmseegelände läutet dann eine Lockerungsphase ein, denn der Weg zum Rawilpass über das auf dieser Höhe ungewöhnlich flache und weiträumige Gelände ist gutmütig und kaum mehr steigend. Das gibt Raum für geistiges Turnen mit Rico.

Blick zurück vom Plan des Roses
Die sonderbare Weite der Alp Rawil

Es wird nun Zeit, sich von den Walliser Riesen zu verabschieden, denn auf dem Rawilpass wechseln wir von der Westschweiz in die Deutschschweiz bzw. vom Wallis ins Berner Oberland. Zunächst folgen wir dem Pfad zur Wildstrubelhütte, zweigen später wieder leicht absteigend zu den Rawilseelein ab, um dann wieder eine knackige 200 Höhenmeterbarriere zu meistern, jene zum Tierbergsattel. Jetzt sind wir gut vier Stunden unterwegs, die beiden Zeiger der Uhr weisen strikt nach Norden. Zeit für eine ausgedehnte Pause, die wir unter anderen für einen Schwatz mit einer fröhlichen Trailrunnerin nutzen.

Blick zurück vom Tierbergsattel…

Derweilen studiere ich die Nordflanke des Wildstrubels und sehe mich in der Überzeugung bestätigt, dass man auf dem Weg zum Ammertenpass auf den Abstieg über die grosse Mauer zum Rezliberg und den endlosen Wiederaufstieg durch das Ammertental verzichten kann. Doch davon später.

… und der Blick voraus zum Wildstrubel, den wir direkt unterhalb seiner Wände passieren wollen

Vorerst geniessen wir die unglaublich schöne Szenerie, die uns beim Abstieg zwischen Wildstrubel, Plaine Morte und Gletscherhorn in den Bann zieht. Dieses Teilstück kenne ich von früheren Touren, es gehört für mich zum Eindrücklichsten, was die westlichen Berner Alpen zu bieten haben. Das von den den Gletschern geschliffene Gelände, die wasserreichen, wilden Bäche, die imposanten Felsformationen. Eine Wucht. Eines der Highlights ist die Überschreitung eines tosenden Gletscherbachs über ein schmales Brücklein und der folgende Wiederaufstieg über die glattgeschliffenen Felsen mit dem Rezliberg Eissee im Rückspiegel!

Wilde Wasser
Rezlibergsee und Gletscherhorn

Wir müssen jetzt aufpassen, die Abzweigung zur nicht markierten Wildstrubelroute nicht zu verpassen. Diesem Pfad folgen wir, steil hoch, bis zu den „Roti Steine“, um spätestens bei Punkt 2415 weglos nach Westen abzuzweigen und auf das vergleichsweise flache Gelände vor den Wildstrubelwänden zu navigieren. Zu meiner Überraschung finden wir sogar einige Steinmännli, aber nicht besonders systematisch aufgestellt. Also schön mit Karte und GPS arbeiten!

Bei „Roti Steine“ wird die Sicht auf die Plaine Morte frei

Bis zu Punkt 2509 ist alles klar und gutes, gras-kiesiges Gehgelände. Von dort blicken wir in einen weiten, gerölligen Talkessel mit kleinem Eissee, der schon etwas mühsamer zu durchschreiten ist. Man stelle sich eine Wanderung auf einem Bahntrassee mit gröbstem Schotter vor…. Wir zielen auf den tiefsten Punkt des Sattels rechts vom Ammertenhorn zu (Pt. 2591), wonach wir im zunehmend steiler werdenden Gelände den Durchgang durch die Felsen finden. Es ist das heikelste Stück der Tour und wird stark durch die aktuellen Verhältnisse bestimmt. Es gibt hier noch viele Schneefelder. Die ersten sind harmlos, aber dann folgt eines im Bereich „30 Grad Plus“. Das heisst – Spikes montieren, Pickel in die Hand, vorsichtig absteigen. Auf der 2480m-Höhenkurve flacht das Gelände kurz ab und hier können wir auf das flache Vorfeld des (ehemaligen) Ammertengletschers traversieren. Und da liegt noch viel mehr Geröll… Doch zum Glück auch noch Schnee – im nur noch leicht abfallenden Gelände ist das hier ein Geschenk. So folgen wir dem Verlauf der langen Mulde entlang der prägnanten Moräne, übersteigen diese an deren Ende und stossen schliesslich auf den Wanderweg zum Ammertenpass. Uff. Das war toll!

Unsere Route im heikelsten Teil des Shortcuts (2 kurze Stellen über 30 Grad)…
… und so sieht das rückblickend vom Ammertenpass aus.
Über Schnee lässt sich die Geröllhalde einfach passieren…

Jetzt folgt zwar nochmals ein sehr, sehr giftiges Steigen, aber nicht lange! Kurz vor halb Vier stehen wir auf dem Ammertenpass und gratulieren uns mit Handschlag zum gelungenen Shortcut.

Der kalte Wind vereitelt leider die verdiente Pause, die wir weiter unten auf den ersten Wiesen der Engstligenalp nachholen. Die Eindrücke des Tages waren so intensiv, dass wir uns gar noch nicht richtig auf die landschaftlichen Reize dieser grössten Hochalp der Schweiz einlassen können.

Die Engstligenalp im Abstieg vom Ammertenpass

Davon erzähle ich dann morgen, auf der viel kürzeren, nächsten Etappe nach Kandersteg. Wir freuen uns jetzt auf einen Abend bei Wirt Norbert im sympathischen Berghotel Engstligenalp, wo wir einen höchst vergnüglichen Abend verbringen – und in richtigen Betten bestens schlafen.

Auf der Terrasse des Hotels den Tag ausklingen lassen …
… und wunderbar schlafen…

Tourdatum: 12. August 2021

Interaktiver Kartenausschnitt mit Höhenprofil und Zeitangaben

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