Der Mond hinter dem Piz Lischana

Hoch über Scuol gibt es eine Welt, die niemand erahnt. Wie eine Mondlandschaft erstreckt sich eine mit kleinen Seen gespickte Hochebene hinter dem Piz Lischana. Ich erklimme sie über eine abenteuerliche Route von S-charl aus und verlasse sie über den Lischana-Hüttenweg, der mich auf kurzer Distanz verschiedene Vegetationszonen in feinster Ausprägung erleben lässt. Kurzum: Ein weiterer Höhepunkt meiner West-Ost-Transversale.

Ich fahre mit dem ersten Postauto von Scuol nach S-charl. Es ist eine Schüttelfahrt durch ein von den Gewittern der letzten Woche gezeichnetes Tal. S-charl war vier Tage von der Umwelt abgeschlossen, die Strasse ist erst seit 36 Stunden wieder offen. Während der Busfahrt wird klar warum. Unmengen von Geröll wurden von den wilden Wassern verschoben und mussten weggeräumt werden. Eindrücklich, dieser permanente Kampf gegen die Natur, der hier immer wieder von Neuem geleistet werden muss um das Tal am (Zivilisations-)Leben zu erhalten.

Viel Aufräumarbeit nach den Gewittern von Ende August

In S-charl selber ist es hingegen friedlich wie eh und je. Der Bus wendet mitten im Weiler, es ist noch kein Mensch zu sehen. Die gepflegten Holz- und Steinbauten wissen zu gefallen, auch das kleine Kirchlein setzt einen Akzent. Ich zurre meine Jacke zu, es ist frisch am frühen Morgen. Bis die Sonne im Sasvenna-Tal ihre Aufwartung macht, wird es wohl noch eine gute Stunde dauern. Der angenehme Steigwinkel des Wanderwegs ist ideal zum Aufwärmen, ich freue mich auf das Kommende, das Gefühl des priviligierten Wanderers wärmt mein Herz.

Das beschauliche S-charl

Bald erscheint hoch über mir die Fuorcla Aua, der schmale Durchgang zwischen Piz Cotsch und Piz d’Immez, der über einen blau-weiss markierten Pfad erklommen werden kann. Das sieht von weitem ziemlich steinig aus, ich bin mal gespannt. Vorerst muss ich mich kurz mit einer Herde Rinder unterhalten, die auf der Alp Sasvenna weidet. Die neugierigen Burschen lassen mich nicht einfach so durch ihre geschlossenen Reihen passieren. Ein ernster, bestimmter Wortwechsel hilft. Kurz darauf erreiche ich die Abzweigung zum Aufstiegspfad.

Durch das Val Sasvenna – rechts oben die anvisierte Scharte

Dieser führt zunächst durch viel Grünes zu einem Bach, der sich weit in sein Tobel eingegraben hat. Eindrückliche Fotosujets gibt das! Dann wird es steiler und steiler. Das ausgewaschene Bachbett muss etwas abenteuerlich durchstiegen werden, dann wird er auf der grasigen Moräne so steil, dass die Stöcke einen grossen Teil der Arbeit leisten müssen. Christine hatte recht, als sie mir empfahl, die Tour in diese Richtung zu begehen. Ein Abstieg über diese steile Flanke mit dem rutschigen Kies ist eine ernste Angelegenheit  – dann doch lieber der Kraftakt mit den Stöcken! Irgendwann erreichte ich die Felsen, wo der Weg kettengesichert ist. Das ist zwar ganz nett, aber weiter unten hätten diese Dinger mehr genützt. Tant pis – der anstrengende Aufstieg in diesem wilden Gelände ist höchst kurzweilig und macht Spass. Nur immer wieder etwas anhalten, Luft holen und Puls senken ist angesagt.

Ein eingefressener Bach…
… und eine steile Moräne auf dem Weg zur Fuorcla Aua

Als ich schnaufend oben ankomme, verschlägt es mir die Sprache: Ich blicke auf einen See und rund herum über eine endlose Mondlandschaft. Nicht ganz flach, aber eben doch wie eine unendlich weitläufige Hochebene wirkend. Grossartig, das hätte ich echt nicht erwartet! Und zu allem hinzu baut sich tornadoähnlich eine Wolke vor mir auf, die sich wenige Minuten später wieder gänzlich auflöst. Was für ein Spektakel! Fasziniert setze ich mich eine Weile an das Ufer des Lai di Lischana und versuche die überraschenden Eindrücke einzuordnen. Wo sah ich das schon einmal? Womit lässt sich das vergleichen? Ich ergebe mich der grenzenlosen Bergliebe, die mir jede vorherige Anstrengung vergessen lässt.

Naturphänomene…
…in einer Mondlandschaft

Der Weg bis zur Fuorcla da Rim ist nun nicht mehr weit. Das Surfen über den mageren, kiesigen Boden macht Freude. Auf dem Pass treffe ich auf den rotmarkierten Wanderweg, der einerseits hinunter nach Scuol zur Lischana-Hütte und in östlicher Richtung über die Hochebene zu den Seelein führt. Ich kreuze ihn und folge der guten Spur zum Grat, der zum nur wenig höheren Piz Lischana führt, zunächst über einen namenlosen 3000er-Gupf, dann etwas ausgesetzt über den Felsgrat in eine Scharte hinunter und schliesslich über eine gute Spur traversierend an den Fuss des Gipfels.

Surfen über die Hochebene in Richtung des Piz Lischana und seiner Vorgipfel
Der Gipfelgrat mit dem lädierten Piz Lischana an seinem Ende

Ich bestaune den Gipfel, der vor 12 Jahren zum Teil einstürzte und seither nicht mehr bis ganz zuoberst besucht werden darf, weil er jeden Tag weiter abbrechen kann. Zu meinen Entsetzen turnen da aber ein paar Typen verantwortungslos herum. „Ohne mich!“ denke ich, und drehe um. Ich will nicht dabei sein, wenn der Felsabbruch kommt. Zunächst ärgere ich mich, aber zurück auf dem gutmütigen „Gupf“ bei einem Schluck Tee beruhige ich mich schnell. Dann halt kein „Piz Lischana minus 10m“. Sehen tue ich sowieso dasselbe auf meinem namenlosen Freund sitzend. „Dafür bleibt dir mehr Zeit für den z’Mittag in der Hütte“, sage ich mir. Gesagt, getan. Der Abstieg zur Hütte ist wiederum spannend und die Rösti mit der Engadinerwurst hervorragend.

Der Blick zurück zur Mondlandschaft
Ein kniffliger Hüttenweg
Hoch über Scuol thront die Lischanahütte auf einem Felsvorsprung

Für den Abstieg ins Tal habe ich dann keine grosse Erwartungen mehr. „1200m runter, Knie schonend“ ist angesagt. Aber das täuscht zu meiner Überraschung gewaltig. Der Hüttenweg erweist sich als höchst erfreulicher und abwechslungsreicher Schlussteil der Tour. Er ist nicht zu steil angelegt und führt stetig von einer in die andere Vegetationszone. Nach den Blöcken und das Gras kommen die ersten Lärchen, dann werden diese höher und stehen dichter, noch weiter unter folgen tolle Bachübergänge, schliesslich streife ich durch einen herrlich duftenden Wald, der mich zur tiefgrünen grosszügigen Alp San Jon führt. Hier ist ein grosses Pferdezentrum (sagt man das so?) angesiedelt, im Saloon bekomme ich ein feines Panaché. Von da sind es nur noch wenige Minuten zur Bushaltestelle, denn die letzten 300 Höhenmeter hinunter nach Scuol erspare ich meinen Knien zuliebe gerne.

Ein immer grüner werdender Abstieg nach Scuol…
…mit eindrücklichen Bachläufen

Tourdatum: 2. September 2023

Interaktiver Kartenausschnitt mit Höhenprofil und Zeitangaben

Kartenausschnitt Piz Lischana

Der abendliche Blick zurück zum Piz Lischana und zur Hütte auf dem Vorsprung im schönen Tal rechts daneben
Die klare Gipfelwarnung, an die sich nicht alle halten…

4 Kommentare

  1. Das klingt nach einem schönen Tag! Freue mich, dass Du die fantastische Landschaft bei den Seen so faszinierend findest wie ich.

  2. Griaß di Edwin,
    welch eindrückliche und einsame Tour in einer grandiosen Landschaft. Obendrein deine immer wieder aufs Neue geradezu spannende und inspirierende Beschreibung deiner Erlebnisse.

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