Es gibt Momente, in denen ich das Gefühl von Freiheit und Ergriffenheit in der Natur besonders intensiv erlebe – zum Beispiel auf dieser dreitägigen Wanderung durch das entlegene Calanca-Tal. Die erste Etappe, die in Lumino beginnt und mich über den Monte Sauru und den Passo di Mem – quasi durch die Seitentür – in das wildromantische Tal führt, ist nicht nur eine Reise durch eine grossartige Landschaft, sondern auch ein Erlebnis voller Erinnerungen und innerer Ruhe.
Das 4er-Gondeli hievt mich in 15 Minuten vom oberen Dorfrand in Lumino auf die Gratkante zwischen Leventina und Misox. Ich bin froh über diese 1.000 Höhenmeter Aufstiegshilfe; es ist ein schwül-heisser Tag, und der Mehrtagesrucksack ist schwer. Bereits hier bietet sich ein grandioser Blick auf das Tessin. Es fühlt sich an, als würde der Berg mich rufen. Los geht’s! Schon bald legt sich die feuchte Luft auf meiner Haut nieder, dann kullern die ersten Schweisstropfen von meinem Hutrand. Es ist ein steiler, aber angenehmer Aufstieg, der durch den dichten Schatten des Waldes noch etwas erfrischende Kühle verschafft.


Der Pfad wird zunehmend steiniger und herausfordernder, doch der Wald mit all seinen Geheimnissen und die Rauheit des Grats bieten ständig neue Reize. Nach einer Stunde ist die Waldgrenze erreicht und ich betrete die Alpe di Brogoldone mit ihrer Hütte. Die fröhliche Wirtin grüsst herzlich und serviert mir zur Erfrischung ein eiskaltes Grapefruit-Gazosa. Fein!

Derweilen lasse ich den Blick schweifen, hinunter in die Leventina und in die Ebenen von Bellinzona bis zum Lago Maggiore. Es ist ein Moment der Stille und des Staunens. Hier fühlt sich die Zeit fast an, als würde sie stillstehen. Ein Traum. Dann denke ich auch mit väterlichem Stolz an Yael, die da unten vor vier Tagen ihren lang ersehnten Xtrem-Triathlon in Angriff nahm und sich damit einen Traum erfüllte.

Mein Weg führt nun weiter über offenes Gelände mit unzähligen Alpenrosen in Richtung des markanten Pizzo Claro. Auf dem Passo di Mem kommen mir unweigerlich die Erinnerungen an einen früheren Besuch. Vor einigen Jahren versuchte ich Ende April, direkt über den Grat den Gipfel zu erklimmen – doch der Plan scheiterte aufgrund eines zu steilen Schneefeldes. Soll ich es heute noch einmal probieren? Doch der Blick auf den Gipfel, der sich zunehmend in Wolken hüllt, trifft die Entscheidung für mich: Er bleibt weiterhin unbestiegen.

Dafür tauche ich nun in das Calancatal ein. Es empfängt mich mit einer weiten, grasig-steinigen Hochebene, die weglos, aber gut rot-weiß markiert traversiert wird. An der Stelle, wo ich weit unter mehr den „offiziellen“ Eingang ins Tal am besten sehe, mache ich Halt und verschlinge mein Sandwich.

Als ich wenig später die Abzweigung passiere, von der aus der markierte Pfad zum Piz Claro hochführt, bleibe ich nochmals kurz stehen. Soll ich auf gut Glück hoch oder nicht? Die Wolken scheinen nicht besonders stationär zu sein. „Ach nein“, lache ich, lasse doch die Energie für anderes übrig. Ich bin erstaunt über meine innere Ruhe und die Zufriedenheit über das, was sonst geboten wird. Wolken hin oder her.

Im Abstieg zur Alpe Rossiglion brauche ich bereits einen Teil der gesparten Kraft. Eine Tafel warnte vor Herdenschutzhunden, und genau vor mir taucht ebenso eine Schafherde auf – mitten auf dem Weg. Also mache ich einen grossen Bogen um die Herde, um unangenehme Begegnungen mit diesen Biestern zu vermeiden. Das Gelände lässt es zum Glück zu, auch wenn die Alpenrosenbüsche mir ziemlich die Beine aufkratzen. Aber das nehme ich stoisch hin.

Auf der Alp wird indessen fleissig an der Restaurierung der alten Steinhütten gearbeitet. Sie sollen Teil eines neuen Höhenweges mit Selbstversorgerhütten werden, der den Besuch des 2019 geschaffenen Naturparks Val Calanca noch attraktiver machen soll. Ich bin beeindruckt von diesem Engagement. In einer so abgelegenen Gegend wird etwas Schönes für alle Bergfreunde geschaffen.
Aus Weide wird nun offener Lärchenwald. Der Duft der frischen Nadeln streichelt meine Nase. Immer wieder höre ich das melodische Rufen des Kuckucks, und für einen Moment fühle ich mich ganz eins mit der Natur. Erinnerungen an frühere Tage im Calanca-Tal kommen auf – damals hatte mich der Gesang des Kuckucks ebenso fasziniert. Nun höre ich ihn für die nächsten Tage immer wieder, als würde er mich begleiten.


Der Abstieg wird nun sukzessive steiler, und der Wald dichter, aber eine dicke Schicht abgestorbener Nadeln schafft ein sanftes Finnenbahn-Feeling. Sehr angenehm für die Knie! Dann erreiche ich Landwirtschaftsland. Mit viel Mühe wurde hier einst terrassiert, um Getreide anbauen zu können. Die Mauern sind längst zerfallen. Später bestaune ich eine saftige Wiese, auf der Tausende von weissen Germern (ich meinte zuerst, es seien gelbe Enzianen, aber eine Leserin hat mich korrigiert) kurz davor sind, ihre Blüten zu öffnen. Der Bergfrühling ist in vollem Gange, die Natur zeigt sich in ihrer üppigsten Pracht. Nochmals Zeit, ergriffen innezuhalten und die Vielfalt der Flora zu bewundern – und zwischendurch viel Wasser zu trinken!


Schliesslich erreiche ich das kleine Landarenca, wo ich mich selbst als Maschinist der kleinen Seilbahn betätigen darf. Aber vorerst will ich dieses charmante Nest noch erkunden. Die Häuser sind ursprünglich und pittoresk, die meisten renoviert. Und es gibt sogar eine kleine Osteria, die jedoch an diesem Tag geschlossen ist. Später höre ich, dass nur noch neun Menschen in diesem Dorf leben, der Grossteil dieses Kleiniods sind Ferienhäuschen.

Also lasse ich mich bald mit der Gondel nach Selma tragen. Da dort gerade vorläufig kein Bus kommt, entscheide ich mich spontan, dem alten Säumerweg entlang der Calancesca nach Arvigo zu folgen. Auch das lohnt sich. Die Blöcke alter Bergstürze erzwingen zwar etwas Auf und Ab, aber die Idylle und das Rauschen des Flusses sind betörend. Als ich am Wegende die uralte Steinbrücke von Arvigo erblicke, fühlt sich das wie der Abschluss eines wunderbaren Abenteuers an.


Und ja, das kleine BnB Ai Cav Calanca ist das Tüpfchen auf dem i des ersten Tages. Ich werde wie ein König begrüsst und bewirtet – nur zu empfehlen!
Tourdatum: 25. Juni 2025
Interaktiver Kartenausschnitt mit Höhenprofil und Zeitangaben

Beste Edwin,
Wat is het voor een buitenlander een feest om deze prachtige wandeling met zijn mooie foto,s en
uitgebreide lyrische enthousiaste beschrijving te mogen delen .
Ons gaat het prima wat ouder en niet wijzer maar genieten van het leven .
Ha die Rob! Alles goed met jullie. Weer in Wengen deze zomer?
das ist so wunderschön beschrieben, es muss wirklich traumhaft schön sein. Ich freue mich auf den 2. Teil