Die Königsetappe meines dreitägigen Calancatal-Streifzugs führt über den Sentiero Calanca, von der Buffalorahütte nach San Bernardino Dorf. Sie ist zwar sehr lang, aber weil ich keine Lust habe, unterwegs in eine der beiden Selbstversorgerhütten zu übernachten, bleibt mir keine andere Wahl. Eine abwechslungsreiche und spannende Tour der Extraklasse!
Es ist herrlich frisch, und der Himmel zeigt sich tiefblau, als ich morgens früh in das gestern kräftig durchregnete Tal schaue. Das wird ein toller Tag! Tiziana und Cate bereiten mir ein feines Frühstück zu. Die Kohlenhydrate werde ich heute gut gebrauchen können. Die Hüttenwartin drückt mir noch ein dickes Salami-Sandwich in die Hand, als ich mich wenig später dankend verabschiede.

Der Sentiero Calanca verläuft hier gemütlich mit einer horizontalen Traversierung des weiten Talkessels. Dennoch muss das Auge jedem Schritt folgen. Der Pfad ist schmal, uneben und mit Steinen durchsetzt, sodass das Vorwärtskommen entsprechend langsam ist. Das wird grosse Teile der Tour prägen und muss bei der Zeitplanung berücksichtigt werden. Die Schweizmobil-Angaben treffen hier ziemlich gut zu (meistens sind sie für mich eher zu grosszügig berechnet).
Nach einer Stunde durch den offenen, mit Alpenrosen durchsetzten und wohlriechenden Lärchenwald erreiche ich das erste Highlight – das herzförmige Calvaresc-Seelein. Ein schöner Moment, um innezuhalten, ein Foto zu machen und dieses ohne Worte nach Hause zu senden.

Es folgt ein etwas ausgesetztes Teilstück entlang einer steilen Flanke (1500 Meter über dem Talboden) im Aufstieg zum Piz de Gana. Dort begrüssen mich zwei mächtige Steinmänner, aber ein „Piz“ ist das eigentlich nicht, eher eine vorgelagerte Gratnase. Die Szenerie ändert sich zu 100%. Ich biege in das karge Ganan-Tal ein, das in einem grossen Halbkreis im leichten Auf und Ab durchwandert wird. Zuhinterst im Tal klebt die erste Notunterkunft am Hang, die Rifugio Ganan. Ein Dreieck aus Blech mit vier Schlafplätzen. Zeit für eine kurze Pause und eine Besichtigung. „Schon sehr eng“, denke ich mir. Weiter geht’s.



Am Ausgang dieses rauhen Seitentals gibt es eine Wiederholung von vorhin – eine kurze, aber ziemlich ausgesetzte Bänderpassage um die Bergflanke herum zum nächsten Seitental. Ich kann das tosende Wasser der Calancesca weit unter mir fast riechen.



Dann wieder ein krasser Szenenwechsel: Das Val Largé ist zwar nicht ganz so lieblich wie das Buffalora-Gebiet, aber grün und freundlich. Und wieder diese Lärchen! Und das Rufen des Kuckucks! Wunderschön. Nach zwei Gegensteigungen stehe ich eine Stunde später am Lagh de Trescolmen. Ein weiteres Kleinod, von blumenstrotzenden Wiesen umgeben, die zum Picknicken (und manche auch zum Campen) einladen. Es ist kurz vor zwölf, die ersten knapp fünf Stunden sind vorbei.


Doch es ist der falsche Ort für eine längere Rast, denn jetzt kommt der 500 Höhenmeter Aufstiegs-Hammer zum Alta Buresca-Pass an der prallen Sonne. Der beginnt zwar gnädig, endet dann aber ziemlich knackig, unterstützt von meine Händen und Stahlseilen, auf 2500 Metern. Ich bin dennoch erstaunt, wie mühelos das Laufen heute geht. Bei dieser ständigen Abwechslung und des reichen Panoramas ist das keine Überraschung! Aber es reicht für heute, was lange Steigungen angeht.


Und wieder ist der Blick in die nächste Geländekammer eine Wundertüte. Vor mir breitet sich die bizarre Mondlandschaft um den Pian Grand („grosse Ebene“) aus. Was für ein Ortswechsel!
Bevor ich mich neugierig an den Abstieg hinunter in die Ebene mache, schaue ich etwas wehmütig nochmals zurück: Ich verlasse das wildromantische Calanca-Tal, das mich drei Tage lang so verwöhnt hat! Das Abschiednehmen berührt mich auf eine Weise, die mich selbst überrascht. Prompt muss ich ein paar spontane Tränen wegwischen, die sich auf den Weg durch die Salzschicht auf meine Wangen gemacht haben. „Wann kommst du wohl hierher zurück?“, frage ich mich. Es gäbe noch so viel mehr zu entdecken.

Doch lange hält dieser emotionale Ausbruch nicht an, zu konzentriert muss ich mich nun auf die Wegfindung durch die grossen Blöcke zur Ebene hinunter fokussieren. Hier und da helfen Stahlseile über leichte Kletterstellen.
Bei den beiden Hütten des Rifugio Plan Grand treffe ich auf die ersten Wanderer des Tages. Bei aller Liebe zur Einsamkeit sind ein paar Worte des gegenseitigen Austausches doch immer wieder eine Bereicherung! Wir Menschen sind halt eben auch Herdentiere. Die Hütten sind etwas einladender als jene der Rifugio Ganan. Vielleicht wäre es ja lustig, einmal auf dieser Ebene hoch über dem Misox zu nächtigen? We will see – aber heute nicht!


„San Bernardino 3 Std.“ steht auf dem Schild. Das ist zwar etwas grosszügig berechnet, aber eben doch noch ein ganzes Stück. Ich verlasse hier den Sentiero Calanca und steige direkt über die Alp Arbeola Richtung Talboden ab. Bald höre ich den Lärm der Autostrasse unter mir, auch das Swisscom-Netz ist hier wieder voll funktionsfähig (was es im Calancatal häufig nicht ist). Das etwas lange Traversieren (mit einer letzten, kleinen Gegensteigung) zur Alp d’Ocala wird deshalb zur Abarbeitung von Telefonpendenzen genutzt. Ich bin sowieso fast nicht mehr aufnahmefähig für neue Eindrücke. „Es tuet mer Leid!“ rufe ich dem oberen Misox zu. Aber ich komme ja wieder! Das gegenüberliegende Einshorn ist eines der grossen Pendenzen auf meiner Bucketlist.


Im Schlussabstieg durch den Wald zum Lago d’Isola und nach San Bernardino reflektiere ich den Streifzug durch Calanca-Tal nochmals, grinse dann breit und klopfe mir selbstzufrieden auf die Schultern. Das war eine gute Zeit!
Tourdatum: 25. Juni 2025
Interaktiver Kartenausschnitt mit Höhenprofil und Zeitangaben
Hallo Edwin
Heisst der Berg bei San Bernardino wirklich Einshorn?
Hi Markus.
Das Einshorn ist der letzte und höchste Gipfel (ganz rechts) in der Reihe dieser sehr markanten Gipfel rechts bzw. östlich des San Bernardinopasses bzw. des Val Vignun, das von San Bernardino Villagio nordöstlich abzweigt.
BG Edwin
Aber ist dies nicht der Piz Uccello?