Genusskraxeln über die Via Crio

Die 2025 vollendete Via Crio ist ein Eldorado für Alpinwanderer und Liebhaber knackiger Kletterei im zweiten Grad. Wir erkunden heute eine der anspruchsvollsten, weglosen Etappen: die sechste von der Adulahütte zum Soredapass. Ein wahres Spektakel!

Die meisten Gäste in der Adulahütte haben den gleichnamigen Gipfel (Adula = Rheinwaldhorn) als Tourenziel. Wir hingegen visieren dessen nördliche Gratverlängerung an, die uns ebenfalls über zwei Dreitausender führen wird. Die seit 2025 blau markierte Route beginnt etwa 100 Höhenmeter unterhalb der Hütte. Pfadspuren sind nur spärlich vorhanden, doch das Gelände ist im ersten Aufstieg gut begehbar. Ein erstes, kleines Felsband mit Kette gibt allerdings gleich den Tarif durch: Das hier ist wirklich nur ein Abenteuer für erfahrene Berggänger.

Morgenstimmung vor der Adulahütte mit Blick bis zu den Berner Alpen
Yael ist startklar – hinter ihr die Piz Medel-Gruppe im Morgenlicht
Weglos in Richtung Cima del Casletto

Die Markierungen sind frisch und hilfreich – vor allem dann, als nach einer guten Stunde Steigarbeit ein Felsriegel den Zugang zum ersten Übergang versperrt. Eine lange Kette hilft über die ersten Meter (ohne wäre das schon Kletterei dritten Grades), es folgt genussvolle Blockkletterei im ersten Grad. Yael schluckt zunächst zweimal, als sie merkt, dass sie ihre Komfortzone verlassen muss. Aber da die Griffe gut sind und der Fels fest, grinst sie bald über das ganze Gesicht. Papi hat nicht zu viel versprochen.

Dieser Riegel trennt uns von der Cresta del Casletto …
… aber dank der Kette gibt es einen Durchgang

Bald stehen wir auf dem Cresta del Casletto auf 2‘870 m. Was für ein Szeneriewechsel! Vor uns breitet sich ein Ozean voller Blöcke aus, der sich bis weit hinunter ins Tal erstreckt. Das wird jetzt eine akrobatische Hüpf-Challenge, um durch diese „Fornee“ genannte Geländekammer an den Fuss des Piz Cassimo zu gelangen! Für die nächsten zwei Kilometer Abstieg (rund 250 Hm) und Querung brauchen wir eine gute Stunde bei voller Konzentration.

Im Brockenmeer

Da kommt uns plötzlich aus dem Nichts ein junger Tessiner entgegen. Er erzählt nicht ohne Stolz und mit viel Enthusiasmus von seinem Projekt: alle fünfzig Tessiner Dreitausender – und heute sei der letzte dran (Punta dello Stambecco)! Ich packe ihn spontan an die Schultern und wünsche ihm viel Glück:“ Pass auf dich auf, Junge!“

Wir schalten indessen bald wieder in den Steigmodus um. In einfachem, aber zunehmend aufsteilendem Gelände erklimmen wir den Bocca di Fornee und erreichen damit die Wasserscheide zwischen Mittelmeer und Nordsee (Ticino und Rhein). Der Blick auf das Rheinwaldhorn mit seinen Gletschern wird frei! Unsere wahre Aufmerksamkeit gilt nun aber dem eindrücklichen Südgrat des Piz Cassimoi. Jetzt beginnt die richtige Kletterei!

Naturspielereien auf der Bocca di Fornee

Nach einem steilen Herantasten an die Wand hilft uns ein Seil über ein luftiges Band (das Posterfoto der Via Crio). Yael hat etwas Respekt, ich gehe fortan voraus. Es wird stellenweise sehr ausgesetzt. Doch die Route ist hervorragend markiert und die schwierigsten Kletterstellen sind mit Seilen und Stahlgriffen am richtigen Ort entschärft. So bleibt es durchgehende Kletterei im ersten und zweiten Grad, und das in perfektem, festgriffigem Fels. Grossartig!

Ohne Worte
Luftig – aber gut gesichert

Und dann passiert wieder das Gleiche wie auf dem Cresta del Casletto: Einmal oben, ist alles anders. Eine fast flache, einladende und weitläufige Mondlandschaft lädt zum Genusssurfen ein. Das tut gut nach der Anspannung. Auf dem Gipfel nehme ich Yael fest in den Arm. Sie ist begeistert und erleichtert zugleich.

Mit der grossen Pause warten wir indessen. Noch steht uns ein zweiter Südgrat mit entsprechender Kraxlerei bevor. Von weitem sieht dieser ziemlich bedrohlich und unbezwingbar aus, doch wie so oft löst sich das in Minne auf, sobald wir näher kommen.

Auf dem Gipfelplateau des Piz Cassimoi – rechts der Piz Cassinello
Der Pizzo Cassinello mit den Resten des Soredagletschers – man würde kaum glauben, dass man da durchkommt…

Wieder zeichnet sich ein Spektakel ab. Aber vorerst holen wir jetzt die Gruppe junger Tessiner ein, die zwei Stunden vor uns losgezogen ist. Nicht, weil die Jungs etwa so viel langsamer wären, sondern weil sie sich gerne inszenieren in diesem Gelände – mit einer Drohne, die sie an den spektakulärsten Stellen über ihre Köpfe schweben lassen. Das Surren ist gewöhnungsbedürftig, aber was soll’s, sie haben ihren Spass.

Wir überschreiten derweilen den Sella del Cassinello (Pass, genau auf 3000 m), diskutieren kurz über das langsame Dahinschwinden des Soredagletschers nebendran und machen uns dann wieder ans Blockturnen. Das geht ziemlich gut und führt uns bald an die fast senkrechte Südwand des Pizzo Cassinello. Mit ein paar wenigen Griffen heben wir uns in den Fels und steigen in erstaunlich einfacher Kletterei hoch zum oberen, exponierteren Teil der Wand. Dieser ist wiederum mit einem perfekt installierten Seil entschärft. Schliesslich fehlen nur noch ein paar Schritte, und schon stehen wir auf dem einladenden Gipfelplateau des Piz Cassinello. Nach rund fünf Stunden harter Arbeit ist die Mittagsrast mehr als verdient!

Blockkraxeln vor der Cassinello-Wand – dahinter das Rheinwaldhorn
Man würde es nicht glauben… aber die Kletterei hier hoch ist einfacher als jene auf den Piz Cassimoi. Wer sieht die Tessiner in der Bildmitte?
Auf den letzten Metern unterhalb des Gipfels

Der Gipfel weckt in mir starke Erinnerungen, ist er doch Teil meiner Ost-West-Transversale (2018–2020). Ich hätte damals niemals gedacht, dass man dem Gratverlauf von hier weiter folgen konnte.

Der Abstieg gegen Norden ist hingegen einfach. Die schön markierte Route hinunter zum Soredapass führt über eindrückliche Felsplatten, die einst vom Gletschereis glattgeschliffen worden waren. Was für ein spannendes Gelände!

Gipfelblick ins Läntatal zu Zervreilahorn und -see
Gletschergeschliffene Platten prägen den Abstieg vom Piz Cassinello

Auf dem Pass angekommen, sind wir dennoch froh, dass uns jetzt wieder ein richtiger Pfad den Weg zeigt. Hier verlassen wir die Via Crio, die wieder ins Tessin zum Lago Luzzone hinunterführt. Wir wandern steil und bald kniebrechend hinunter ins Läntatal zur bewirteten Lampertsch Alp, wo wir uns ein feines Käse- und Wurstplättli und viel Flüssiges gönnen.

Im Läntatal bei der Lampertsch Alp
Ziel in Sicht – der Zervreilasee

Der Rest ist schnell erzählt. Über einen breiten Alpweg zotteln wir hinunter an den Zervreilastausee. Das sind einige Kilometer, die jedoch rasch bewältigt sind. Nahe der Staumauer wartet das Postauto, das uns müde und glücklich zurück in die Zivilisation bringt. Und mit Stolz und Freude schaue ich meiner jüngsten Tochter nach, als wir uns in Chur verabschieden.

(Wer mehr über das schöne Zervreilahorn und die Überschreitung des Soredapasses zum Lago di Luzzone lesen will, findet das hier).

Tourdatum: 15. August 2025

Interaktiver Kartenausschnitt mit Höhenprofil und Zeitangaben

Kartenausschnitt Piz Cassimoi (pdf)

1 Kommentar

  1. herzlichen Dank für die interessanten Beiträge – ich habe alles mit Freude und Genuss gelesen, auch die Greina-Tour. Ich wünsche Ihnen eine gute Zeit und freue mich auf die nächsten Einträge.

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