Seen und Viertausender

Der Grosse Sankt Bernhard-Pass liegt auf 2450m. Ein guter Ausgangspunkt für Touren mit viel Aussicht. Ich komme hierhin, um die letzten drei Etappen meiner Ost-West-Transversale zu erwandern. Das erste Ziel ist Bourg-Saint-Pierre. Dazwischen liegen zwei blockige Alpinwandergipfel, darum herum eine spektakuläre Viertausender-Kulisse und am Weg eine ganze Serie reizvoller Seen, worin sich die Gipfel spiegeln. Ein wahres Fest.

Heute muss ich etwas Anlauf nehmen, um die Tour stimmig zu beschreiben ohne langatmig zu werden. Es wirken so viele Eindrücke nach, dass mir die passende Gewichtung des Erlebten schwerfällt. Aber eigentlich kommt es nicht darauf an. Die Bilder sagen alles.

Es ist weit für Zolliker zum Grossen Sankt Bernhard. 6.02 ab Zürich HB, Ankunft Hospiz 10.15. Maske weg, Kaffee und ein „pièce de tarte des myrtilles, s‘il vous plait“. Genau vor zwei Monaten endete ein Transversale-5-Täger hier, ich kam mit Walter von der italienischen Seite auf dem Hospiz an. Wir wanderten vom Val Ferret über das Fenêtre de Ferret zum Pass. Nebel, Regen, es war kalt. Entlang der berühmten Lacs de Fenêtre – wir sahen kaum eine Hand vor dem Gesicht. Darum habe ich die Fortsetzung so geplant, dass ich das Val Ferret nochmals bei schönem Wetter besuchen kann, ohne dabei die Route der letzten Etappe zu kreuzen. Die Lösung heisst: Überschreitung der Pointe de Drône.

Der Passsee – das Wetter stimmt!

Es geht los. Der Weg verspricht einiges. In Hikr-Berichten lese ich von einem Klettersteig, T4, I. Tönt cool. Nun, es erweist sich eher als ein Kettenweg, aber auch gut. Zunächst folge ich einem „normalen“ Wanderweg der Landesgrenze entlang zur Chenalette. Ein grossartiger Aussichtspunkt, kaum 30 Minuten vom Pass entfernt. Bis dahin bestechen schon die nahen Grand Combin (4314) und Mont Vélan im Osten und der weiter entfernte Gran Paradiso (4062) im Süden – aber auf der Plattform geht mir der Mund weit auf: Man sieht direkt ins Wohnzimmer des Mont Blanc (4808) – mit den Grandes Jorasses, den vielen Aiguilles und dem Mont Dolent als eindrücklichen Dreiländerpunkt. Wow! Was für ein Start!

Grand Combin und Mont Vélan
Auf der Chenalette – die Mont Blanc-Festspiele beginnen

Dann beginnt der alpine Teil. Eine kettengesicherte und leiterunterstützte Route führt zunächst leicht ausgesetzt auf die felsige Grande Chenalette. Hinter dem Gipfel flacht es ab und es folgt eine typische Alpinwanderung dem wenig steigenden, zeitweilig blockigen Grat folgend zum Gipfel der Pointe de Drône. Unschwierig, aber gerade heikel genug, um sich kurz das Knie zu verdrehen zwischen zwei Blöcken im gefrorenen Neuschnee. Es zwickt kurz, aber ich habe Glück, nichts passiert.

Wenig später stehe ich auf dem 2949m-Berg, den man mit so wenig Aufwand erreicht. Innehalten, Windstopper anziehen, die Bise ist bitterkalt. Dann nur noch freudig staunen: Die Rundsicht ist schlicht und einfach umwerfend.

Einfaches Kraxeln führt auf die Grande Chenalette
… danach folgt Alpinwandern vom Feinsten bis zur Pointe de Drône (links)

Jetzt realisiere ich erst richtig, wie perfekt mein heutiges Wandergebiet liegt. Als der Schöpfer der Westalpen den Grossen Sankt Bernhard gestaltete, legte er nämlich eine wenig hohe Bergkette zwischen die französischen und schweizerischen Viertausender des Mont Blanc- und des Grand Combin-Massivs. Darauf stehe ich gerade. Und weil diese Gipfelchen etwas kahl sind, schmückte er sie mit einem guten Dutzend kleiner Seen, worin sich die vergletscherten Stars spiegeln. Die Fortsetzung meiner Tour wird so zu einem einzigen Schaulaufen.

Grande spectacle auf der Pointe de Drône!
Blick nach Süden ins Aosta-Tal und zum Gran Paradiso-Massiv

Zunächst klettere ich die Westseite der Pointe de Drône ab. Zur Sicherheit mit den Spikes, denn die Bise bläst wirklich böse und der Restschnee vom Wochenende in der Nordflanke ist pickelhart gefroren. Die zahlreichen Ketten vereinfachen den Prozess erheblich.

Kettengesichertes Abklettern

Bald stehe ich am kleinen Pass Fenêtre d’en-Haut, betrete definitiv wieder Schweizer Boden und balanciere über die Blöcke nordwärts hinunter zu den Lacs de Fenêtre. Und jetzt sehe ich sie mit zwei Monaten Verzug also doch – und wie! Aus grau wird grün, Wollgras setzt weisse Tupfer und im tiefen Blau spiegeln sich die weissen Riesen. Nicht ganz perfekt, weil der Wind das Wasser etwas rippelt, aber so what – überzeugt Euch selbst:

Lac de Fenêtre I mit Mont Dolent und Konsorten
Lac de Fenêtre II mit Grandes Jorasses

Nach einer endlosen Fotosession mache ich mich nach einem tiefen Seufzer als Ausdruck meiner Dankbarkeit wieder auf die Socken. Im sanften Steigmodus peile ich die nächsten zwei Pässe an, die mich zum südlichen Ausläufer der Bergkette bringen sollen, auf die Pointe des Gros Six. Ein paar feisse Murmeli glotzen mich neugierig an. Sie sind „winterbereit“, sie können ihre vollgefressenen Bäuche kaum mehr über den Boden halten. „Euch geht es ja gut!“, rufe ich ihnen herzhaft zu.

Zwischen dem Col de l’Arpalle und dem Col du Névé de la Rousse ändert sich die Szenerie komplett. Ein grosses Bergsturzgebiet muss überschritten werden. Ein artistisches Unterfangen, das etwas Zeit braucht. Dann erkenne ich, warum der Pass so komisch heisst, ein seltsam ockerfarbiges Gestein überzieht die Osthälfte der Scharte. Eine besondere Laune der Natur.

Blockhüpfen zum Col du Névé de la Rousse – rechts davon das nächste Gipfelziel

Auf dem Pass steht kein Wegweiser, aber schwache Pfadspuren zeigen die Richtung zur Pointe an. Der Schnee deckt sie bald zu, aber die Richtung entlang des Gratrückens ist gegeben, der Weg durch die Steine nicht allzu steil, das Schneewühlen überschaubar. Bald stehe ich auf dem gegen Osten hin weit gutmütigeren Gipfelplateau. Das war es schon mit der Steigung für heute! Mit wenig Aufwand stehe ich wieder auf fast 2900m Höhe.

Auf der Pointe des Gros Six – beachte das ockerfarbige Gestein auf dem Pass
Der Blick nach Osten zu Grand Combin und Mont Vélan. Von hier geht es später rechts an den Seen vorbei hinunter nach Bourg-Saint-Pierre

Jetzt habe ich das Gefühl, richtig Pause machen zu dürfen und danke Petrus, dass er dazu seine kurze Bewölkungsinszenierung beendet und die Kälte der Bise von der Sonne übertünchen lässt. So lässt es sich gut Biberli mit Früchteriegel essen und das 360-Grad Panorama geniessen. Mein Blick bleibt dabei immer wieder an den Grandes Jorasses hängen, die sich zum Eyecatcher of the Day stilisiert haben.

Grandes Jorasses im Zoom

Beinahe hätte die Spiegelung von Grand Combin und Mont Vélan im namenlosen Seelein oberhalb der Gouille du Diable dies noch getoppt. Aber stop: Der Mont Vélan wird schon morgen der Tagesheld und der Grand Combin der Dominator von übermorgen sein. Alles zu seiner Zeit!

Ohne Worte

Der Abstieg durch das Tälchen der Combes des Planards zieht sich hin, wird aber durch die zotteligen Murmeltieren, ein sorgsam umgebautes Maiensäss mit Liebesnest und durch freundlich nickende Eringerkühe verkürzt. Aus dem Pfad wird ein Fahrsträsschen, das zum Lac des Toules hinunterführt, wo die Besitzerin des Wohnwagenbeizlis bei der Staumauer die richtige Antwort auf meine durstige Kehle erkennt.

Ein lauschiges Plätzchen with a view

Schliesslich schlendere ich durch das nun wieder bewaldete Val d’Entremont zum verschlafenen Bourg-Saint-Pierre hinunter, dessen markanter Kirchturm ein Hauch von Lebensfreude im engen Passtal versprüht. Im „Bivouac de Napoleon“, the best place in town, schlage ich mein Nachtlager auf. Was für ein Tag!

Bourg-Saint-Pierre

Tourdatum: 3. September 2020

Interaktiver Kartenausschnitt mit Höhenprofil und Zeitangaben

ÖV und Tipp: Postauto bis zum Pass und ab Stausee oder Bourg-Saint-Pierre. Wenn man auf die Pointe de Drône verzichtet und stattdessen über das Fenêtre de Ferret zu den Lacs de Fenêtre wandert und danach ins Val Ferret absteigt, wird aus einer T4 (Alpinwanderung) eine einfache Bergtour (T3).

7 Kommentare

  1. Im Online-Fahrplan fährt der Zug in Zürich HB um 5h19 ab und ist dafür um 10h15 auf dem Pass. Oder gibt es da noch
    irgendwelche Express-Schnellwege? Danke für die schönen Bilder

    • Lieber Alex
      Ich kenne das Problem des Online Fahrplan der SBB.. der Zug aus Visp kommt in Martigny 2 Min (.47) an, bevor jener nach La Chable (.49) abfährt. Ist aber auf dem gleichen Perron (Ankunft 1, Abfahrt 50). Wenn Du hinten sitzt und der Zug nicht gross verspätet ist klappt der Wechsel perfekt. Und ja, 10.15 ist richtig
      Gruss Edwin

      • Lieber Edwin,
        danke für die Antwort. Genau so etwas in der Art habe ich vermutet. Der onlinefahrplan hat so seine Macken.
        Es gibt einen Zug aus Chur, wo ich in Zürich 6 Minuten Zeit habe umzusteigen. Das reicht dem onlinefahrplan nicht – aber nur bei dieser einen Verbindung, da schlägt er immer einen späteren Zug vor.
        Gruss und schönes Wandern wünscht Dir
        Alex

  2. Pingback: Edwin wandert

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