Das weisse Laken

Der zweite, lange Tag unserer Gletschertrekkings durch die Berner Hochalpen führt zunächst vom Konkordiaplatz zur Grünhornlücke und um das majestätische Finsteraarhorn herum zur Oberaarjochhütte. Dort lädt uns ein unberührtes, weisses Laken zu einer begeisternden Abfahrt ein. Damit ist der Tag allerdings noch lange nicht zu Ende, der Aufstieg zur Triebteseelücke wird unerwartet zur kleinen Challenge.

Als wir kurz vor sieben Uhr von der Konkordiahütte aufbrechen sind die meisten Tourengänger schon unterwegs. Wir gehen es gerne etwas gemütlicher an. Es ist kalt, lawinensicher, und das Firn wird lange hart bleiben. Schon der Abstieg mit den Skischuhen über die artistische 130m-Treppe wärmt uns auf, die Bise ignorieren wir.

Auf dem Grüneggfirn. Blick zurück zu Konkordiaplatz und Lötschenlücke
Klirrende Kälte im Aufstieg zur Grünhornlücke am Fuss des Fiescher Gabelhorns

Wir schnallen die Ski an und spuren auf das Grüneggfirn zu, das anfangs nur sanft ansteigt, ein gutmütiger Start. Es bleibt Zeit und Luft um sich gedanklich mit der grössten zusammenhängenden Eislandschaft Europas auseinanderzusetzen. Noch liegt eine 900m dicke Eislage auf dem Konkordiaplatz, das hier gespeicherte Wasser bringt Leben in die zahlreichen Dörfer auf den Südhängen des trockenen Rhonetals, teils über abenteuerliche, jahrhundertalte Systeme. Doch auch die Aussicht regt an. Der Blick zurück zur Lötschenlücke, ein Spähen zum Gipfel des Grünegghorns. Dann steilt das Gelände auf, aber ohne viel Mühe erreichen wir bald die Grünhornlücke (3250) und damit die Sonne. Sie wird uns begleiten bis zum Abend.

Wir fellen ab und fahren freudig ein erstes Stück des Fieschergletschers hinunter. Auf dem Plateau entfaltet die Fiescherarena ihre ganze Pracht, auf diesen Moment freue ich mich seit langem. Es ist atemberaubend. Vor uns das dominierende Finsteraarhorn, daneben das vereiste Agassizhorn, nördlich die Fiescherhörner. Dann die Grünhörner, das Gabelhorn und die Wannenhörner. Und über alles die totale Stille, wir sind ganz alleine. Einen von der Zivilisation weiter abgelegenen Ort gibt es kaum in der Schweiz. Für mich ein denkwürdiger Moment.

Agassizhorn und Finsteraarhorn
Viertausender: Das Grünhorn und die Fiescherhörner

Wir schwingen den Gletscher hinunter bis zur Gabelung zum Galmigletscher, auch das ein grossartiger Aussichtspunkt. Wir verlassen den ab hier stark zerklüfteten Fieschergletscher und grüssen die ersten Exemplare der Walliser Viertausenderkette aus der Ferne. Wir pausieren kurz, essen und trinken etwas. Dann nehmen wir die zweite Steigung unter die Füsse, wie heute früh erneut von ca. 2700m nach 3250m hoch.

Gabelung Fiescher-/Galmigletscher mit Wasenhorn

Aufgrund der noch tief eingeschneiten Seracs visieren wir die von Pesche vorgeschlagene Abkürzung durch den Gletscherbruch an. Ich murre kurz, lass mich dann aber schnell überzeugen. Keine Spur von ausgesetzt, Plaisir pur! Und der Bergführer muss es ja wissen.

Durch den im April harmlosen Gletscherbruch des Galmigletschers
Stilleben auf dem Studergletscher mit Finsteraarhorn

Auf den Galmigletscher folgt der Studergletscher, benannt nach einem der ersten Schweizer Bergsteiger und Mitbegründer des SACs (1863). Wir rutschen über die weite Fläche in Richtung des Oberaarjochs, das aber einfach nicht näher kommen will. Die enormen Dimensionen der weissen Flächen und hohen Gipfel machen das Distanzen schätzen zu einem Ratespiel.

Wer sieht die Oberaarjochhütte?

Dann drehen wir in das breite Couloir zum Joch ein, und nach einem kurzen Anstieg haben wir „freie Sicht“ in die Weite nach Osten. Das Furka- und Gotthardmassiv breiten sich vor uns aus, dominierend der Solitär Galenstock (1975 als 12-Jähriger bestiegen, meine erste Klettertour) und den Witenwasserenstock, das übernächste Etappenziel.

Walter und Pesche haben nun richtig Appetit, also steigen wir durch Geröll, über Leitern und durch eine Galerie zur Oberaarjochhütte hoch. Es ist dies eine dieser noch ursprünglichen, am Berg klebenden Schutzhütten. Ein scharfer Kontrast zu vielen modernen SAC-Hütten, die schon fast Berghotelcharakter haben. Der sympathische Hüttenwart macht uns eine Rösti „mit allem“ und stellt uns wenig später die dampfende Pfanne gleich auf den Tisch. En Guete!

Grosse Walliser von fern – Weismies, Mischabel-Gruppe, Matterhorn und Weisshorn

Mit vollen Mägen steigen wir zum Skidepot ab und schnappen uns jetzt das Filetstück (was Skifahren betrifft) des heutigen Tages. Der Oberaargletscher breitet sich, wie gerade mit frischen, weissen Laken bezogen, völlig unberührt vor uns aus. Diese Abfahrtsroute wird nur selten gewählt. Er hat nämlich ein Preisschild – und es gibt keinen Plan B. Wer die traumhaften, fast 1000 Höhenmeter über fünf Kilometer zum Stausee hinunterschwingt, muss nachher zuerst über Eisschollen zur Staumauer turnen (offenbar wird der See im Frühjahr abgelassen, um das Eis zu brechen) und dann wieder 400Hm hochsteigen. Aber eben – wer würde schon freiwillig auf dieses Fest (siehe Bild unten) verzichten?

Das unberührte Laken – was für ein Fest!
Am Talende die Staumauer, links hinten der Galenstock

Nach der tollen Abfahrt kommt das Unvermeidliche. Es ist warm und windstill. Nur noch im T-Shirt rutschen wir durch den Sulz entlang des fast leeren Sees zur Staumauer und klinken dort die Harscheisen an unsere Skis. Es folgt ein kurzer, steiler Aufstieg auf ein Plateau, dann ein anspruchsvolles, traversiersteigen zur Triebteseelücke. Als ob das noch nicht schon genug anstrengend wäre, beginnt sich der trockene Pulverschnee des Nordhangs mit den triefnassen Felle zu verklumpen. Uff, das kostet nochmals Energie und Zeit. Es ist fast halb fünf, als wir den vermeintlich einfachsten und letzten Pass des Tages erreichen – es war der anspruchsvollste Aufstieg.

Traversieren zur Triebteseelücke
… und dort ein herrlicher Blick zurück zu Oberaarjoch und Schreckhorngruppe

Aber es lohnt sich – und wie. Der Rückblick ins Oberaarmassiv, das kurze Grüssen von Lauteraar- und Schreckhorn. Nach vorne die Sicht ins Goms, darüber thronend unter anderem das Blinnenhorn und das Ofenhorn, die uns an eine der schönsten Etappen der Ost-West-Transversale in 2018 erinnern. So strahlt denn auch Walter, auch wenn er die kommende Abfahrt durch den dicken Sulz nach Oberwald nicht mehr zuoberst auf seiner Wunschliste hat, so schwer sind die Beine geworden. „Edwins Planungen“, seufzt er, „es ist nicht weit!“ Aber er kennt seinen Bruder schon zu lange um es ihm übel zu nehmen.

Jetzt da noch runter … im Hintergrund Blinnenhorn und Ofenhorn
Perfekter Sulz unter dem Gross Sidelhorn, glänzend in der Abendsonne ….

Nach vielen schönen Schwüngen, die allerdings zunehmend schwerer werden, erreichen wir den Schutzwald über dem Goms. Ein noch schneebedeckter Waldweg führt uns zum Restaurant Rhonequelle an der geschlossenen aber schon teilgeräumten Passstrasse. Wenig später wechseln wir die Schuhe und buckeln die Ski. Nach einem langen Tag besteigen wir schliesslich müde aber zufrieden an der Furkaverladestation Oberwald den Zug.

Tourdatum: 23. April 2021

Interaktiver Kartenausschnitt mit Höhenprofil und Zeitangaben

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