Grand Tour de Lauenen

Das Lauenental ist meine zweite Heimat. Wer es von A-Z mitbewundern will, folge mir heute. Ich überschreite den Wasserngrat, traversiere das Lauenenhorn, überschreite die Gipfelchen im Skitourenparadies rund um ein Naturphänomen, durchquere die friedvolle Welt des Chüetungels und besuche schliesslich die Geltenhütte und den Geltenschuss im wildschönsten Tal der Welt. Am Schluss winkt ein Chillout am Lauenensee.

Kurz nach acht Uhr betrete ich das nasse Gras neben der Talstation der Wasserngratbahn. Tiger-Trail heisst der Pfad durch die saftigen Bergwiesen zur Bergstation (etwas grossmundig, aber angelehnt an den Tiger-Run, die beste schwarze Skipiste der Region). Der Wanderabschnitt zur Bergstation ist reines Höhenmetersammeln, im Juli/August fährt der Lift. Dafür sind die Beine warm, als ich oben angekommen auf der schönen Bank beim Pt. 2018 pausiere – und einmal mehr voller Freude das Saanenland aus der Vogelperspektive bewundere. Der Himmel ist zwar milchig, aber auch das ist schön. Nur die Fotos wirken dadurch etwas blass. Mein erster Weggefährte des Tages sieht es noch viel besser als ich: Elegant kreist ein stolzer Steinadler über meinem Kopf.

Blick vom Wasserngrat nach Gstaad
Die andere Talseite des Lauenentals: die Wispile. Ganz hinten im Bild die Dents du Midi

Neben den letzten Resten eines Schneefelds blühen Soldanellen und Krokusse um die Wette. Ich will mich heute besonders der Flora annehmen, unter dem Motto: mehr Wissen macht mehr Freude. Ein frisch heruntergeladenes Blumen-App soll mir dabei helfen. Blumen bestimmen ist nicht trivial. Ich scheitere schon grandios bei den hübschen Kugelblumen, die ich mit Bergdisteln verwechsle… logisch denken hätte wohl mehr geholfen als die Online-Datei.

Nacktstängelige Kugelblumen vor dem Giferspitz

Nun wird die Route anspruchsvoller – und spektakulär. Das spannende Teilstück entlang und über dem obersten Teil des Wasserngrats zur Wandliflue ist ausgesetzt, aber gut gesichert. Brüchige Felsen, knorrige Bäume und endlos viele Blumen säumen den Weg. Liebhaber für Tiefblicke kommen auf ihre Kosten. Das letzte Stück Gratsurfen zum höchsten Punkt ist schlichtweg phänomenal. Ich sinke zufrieden auf die „Geltenblick“-Bank und atme tief durch: Das ganze Lauenental liegt zu meinen Füssen, abgerundet vom mächtigen Wildhornmassiv an seinem Ende.

„Geltenblick“ – das scharfe Auge sieht den Geltenschuss

Der Pfad verliert nun wieder an Höhe bis zum Turnelsattel in der Scharte zum Lauenenhorn. Ich wate kniehoch durch Hahnenfüsse (oder Trollblumen?) und anderes Geblüm. Dann erinnere ich mich daran, wie ich genau an dieser Stelle vor sechs Wochen am Karfreitag meine Steigeisen anschnallen musste, um den noch winterlicher Gipfel zu erklimmen… heute ist alles anders. Schön!

Mein Weg folgt nun der Höhenkurve entlang der steilen Flanke des Lauenenhorns. Auf dem Südostgrat steigt der Pfad zum Türli ab, einem kleinen Pass zwischen Lauenen- und Turbachtal. Damit betrete ich mein geliebtes Schneeschuh- und Skitourengebiet zwischen Trütlisberg und Rothorn. Es folgt ein Auf und Ab in Richtung Stübleni. Das Besondere ist hier die „Gryde“, ein faszinierendes Spielfeld der Natur. Das Wasser hat die weiche Kreide aus dem Kalk gewaschen, sodass sich das Gelände wie ein Feld voller Bombentrichter präsentiert. Der schmale Pfad mäandert um die tiefen Löcher, in die man lieber nicht hinunterfällt. Zur Zeit sind sie noch satt mit Schnee gefüllt, aber auch so schaue ich lieber in die Trichter hinunter als von unten hinauf.

Die Tourenhügel rund um den Trütlisberg, links hinten der Wildstrubel
Die Gryde I
Gryde II, Blick zurück mit Lauenenhorn und Giferspitz

Der Abstieg von der Stübleni zum gleichnamigen Pass ist lieblicher. Die ausladenden Grashänge blühen prächtig. Hier – wie an der Südflanke des Lauenenhorns übrigens auch – lässt man das Gras wachsen, bis es im August gemäht… und per Helikopter ins Tal geflogen wird. „Blumenschutz“ nennt man das. Spass beiseite, es ist sinnvoll, denn würde das lange Gras nicht geschnitten, wäre es im Winter eine ideale Lawinenrutschbahn. Plötzlich entdecke ich neben den unzähligen dunkelblau-violetten Enzianen ein wunderschönes Exemplar in den Zürcher-Farben (siehe Foto)! So eins habe ich noch nie gesehenen, wie schön!

„Zürcher“ Enzian

Beim Pass verlasse ich den Wanderweg und folge weglos dem grasig- kiesigen Grat über die Fürflue und dem Blattigrat zum Rothorn. Das gutmütige Gelände und einige Pfadspuren ermöglichen das problemlos, und der Besuch dieses markanten Grasgipfels lohnt sich auch im Sommer. Eine Kolonie junger Murmeltiere findet den Störefried zwar nicht so lustig – ich sie aber schon. Wenig später liege ich auf dem Gipfelgras und fotografiere ein endloses Feld gelber Alpen-Kuhschellen (meint mein App).

Zeit für die Mittagspause. Ich sitze auf dem höchsten Punkt des Tages, geniesse mein Sandwich, denke an alles Schöne in meinem Leben und bin rundum zufrieden. Sogar der Himmel wird jetzt allmählich blau…

Blick vom Rothorn auf Niesehorn und Wildhorn

Der nächste Leckerbissen ist der weite, einsame Talkessel des Stiere- und des Chüetungels am Fuss des Berner Oberländer Alpenriegels. In und unter den Wänden von Niesehorn und Hahnenschritthorn liegt noch viel Schnee. Ich schlendere den flachen Rücken des Rothorns hinunter und wate bald durch ein Meer von Sumpfdotterblumen. Die Hänge sind hier stellenweise richtig mit Wasser vollgesogen, die Blumensorten zeigen wo.

Sumpfdotterblumen im Stieretungel
Der Blick zurück über den Chüetungel zum Rothorn (Bildmitte)

Bei den Ställen des Chüetungels zweige ich Richtung Süden ab und steige nochmals hoch. Das Ziel ist nun das Geltental, dessen Flanke über das etwas ausgesetzte, aber gut gesicherte Geltentrittli erreicht wird. Nach einer Leiter und einigen felsigen Passagen folgt eine Alp, auf der es vor Murmeltieren nur so wimmelt. Tief unter rauscht der Geltenbach, dessen Fluten sich gerade vom brutalen Sturz über den Geltenschuss erholen müssen.

Eindrücke vom Geltentrittli
Geltentrittli
Hoch über dem Geltental. In der Bildmitte der Geltenschuss
Die Geltenhütte

Wenig später stehe ich vor der geselligen, neubewarteten Geltenhütte, wo Helen mich gleich mit einem Panaché nach Pesche-Art (Grapefruit anstatt Citro) versorgt. Auch der frische „Hasli-Chüeche“ (Haselnusstorte) schmeckt grossartig. Vergnügt rutsche ich später die wenigen Restschneefelder hinunter, um zum exklusiven Dessert des Tages zu gelangen: Der Abstieg durch das wildromantische Tal zum Lauenensee. Aber das beschreibe ich hier jetzt nicht mehr im Detail, denn davon habe ich insbesondere hier, aber auch hier und hier schon genug erzählt.

Chillout am Lauenensee

N.B. Die „Grand Tour de Lauenen“ mag für einige Nachwanderer wohl etwas zu lange erscheinen. Die Sesselbahn im Hochsommer kürzt jedoch eine gute Stunde ab. Alternativ nimmt man vom Stüblenipass den Pfad (45′) zur Lenker Leiterli-Bahn, umrundet das Rothorn über den Tungelpass oder taucht vom Chüetungel direkt zum Lauenensee ab. Aber das überlasse ich Euch – come up, see, enjoy and love!

Zur Veranschaulichung noch der Wasserngrat mit seiner alpinen Spitze (am Folgesonntag vom Hornberg aus gesehen)

Tourdatum: 22. Mai 2020

Interaktiver Kartenausschnitt mit Höhenprofil und Zeitangaben

öV: Bus ab Bahnhof Gstaad zur Wasserngratbahn und ab Lauenensee (nur Sommersaison)

1 Kommentar

  1. hey, danke für deinen bericht und die wirklich herrlichen bilder!🤗 schöne sunntig lg daniela

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